Selbstversorgung
Nach heutigem Sprachgebrauch waren die Einheimischen bis in die 1950er Jahre Selbstversorger. Den größten Teil ihrer Nahrungsmittel erzeugten sie in den Gärten und auf den Feldern. Auch die Verarbeitung erfolgte innerhalb der Ortsgrenzen. Dafür gab es zwei Mühlen, eine Bäckerei, einen Metzger und ein paar Hausschlachter. Dazu kamen mehrere Hausschlachter, die besonders in den Wintermonaten von Haus zu Haus gingen, dort Schweine schlachteten und Fleisch- und Wurstwaren herstellten. Für das Brotbacken benötigte man nicht einmal einen Bäcker, da es zum Alltag gehörte selbst Hand anzulegen. Dafür gab es im alten Ortskern mehrere Backhäuschen, die der Allgemeinheit zur Verfügung standen und rege genutzt wurden. Eines dieser Häuschen stand auf dem Hof des Bauern Dethoff. Der Backtag war dabei ein überaus wichtiger Tag, da die Öfen nicht immer liefen bzw. befeuert wurden und die gebackenen Waren mehrere Wochen halten mussten. Auch die Milch der Kühe und Ziegen verarbeitete man sofort. Man schöpfte den Rahm der Milch ab und stellte in Butterfässchen dann per Hand Butter her. Erst viel später brachte man die Milch in Molkereien. Ab den 1960er Jahren kaufte man die fertigen Produkte im Lebensmittelfachgeschäft und später in Supermärkten. 2023 existieren noch drei traditionelle Bäckereien (Heere, Becker und Silber) und eine industrielle Großbäckerei, eine Fleischerei (Ullrich) und eine Supermarkt-Metzgerei, zudem gibt es keine Hausschlachter mehr und die Backhäuser wichen dem heimischen Ofen.
Der Hof der Familie Dethoff um 1960 an der Kasseler Straße 2. Die Gebäude wurden in 1968 abgerissen. Auf dem Grundstück soll sich eines der Backhäuschen befunden haben, eventuell könnte es sich um das kleine Haus auf der rechten Seite gehandelt haben.
@Gemeinde Niestetal
Landwirtschaft und ernte
Schon der Ortsname deutet darauf hin, dass Heiligenrode ein Rodedorf war. Im Volksmund heißt es für Rodungen:
Der 1. Generation bringt sie den Tod, der 2. Generation viel Arbeit und den weiteren Generationen die Früchte.
Obwohl der meist karge und steinige Boden in der Gemarkung nur Durchschnittsernten zuließ, lebten alle ausreichend von der Landwirtschaft. Durch die so genannte Dreifelderwirtschaft (Winterfrucht, Sommerfrucht und Brache) und durch die vielfältigen Steuerabgaben an u.a. Landgrafen und Könige blieb der Bevölkerung relativ wenig zum eigenen Verbrauch. Erst nach 1821 verbesserte sich die Lage der Landwirtschaft in unseren Breiten. In der neuen Verfassung Kurhessens, aus dem Jahr 1820, wurde den Landwirten deutlich weniger Steuern und Abgaben versprochen. Zwischen 1835 und 1853, wurden dann die unterschiedlichen Naturalabgaben der Bauern abgeschafft und die Landwirte erhielten gegen hohe Ablösesummen die persönlichen Rechte an ihrem Besitz und Eigentum. Somit konnten die Bauern ihre Erzeugnisse selbst verkaufen und musste anstelle dieser nun Steuern bezahlen.
Als Landgrafendorf des Mittelalters hatten die "Ackersleut" in Heiligenrode allerhand Abgaben zu leisten. Der größte Teil ging dabei an die Rentkammer, ein Verwaltungsamt des herrschenden Landbesitzers. Daneben verblieben noch Abgaben und Dienste für kirchliche Einrichtungen und adelige Familien. Aus 1458 ist uns ein "Pflugregister" erhalten geblieben. Hier erfassten die Beamten alle Höfe und Ackersleut. Genannt werden u.a. die Höfe (Hufen / Hube) und ihre Besteller, sowie die zu leistenden Steuerabgaben (Pfluggeld). Einige der erfassten Ackersleut, und somit eine der ältesten Namensüberlieferungen Heiligenrodes, hießen Tzaen, Bischoff, Hildebrand, Gobel, Sidmer, Smed, Junemann und Frikurdes.
„Hoste morjen Zitt? De Bure kimmet zum Kartuffeln ussmachen. [Hast du morgen Zeit? Der Bauer kommt zur Kartoffelernte.]“ - war ein Spruch, den man im 20. Jahrhundert noch häufiger hörte. Bei der Kartoffelernte lasen häufig die Frauen die reifen Erdäpfel auf. Sie knieten dabei mitten auf dem Acker und ernteten Reihe um Reihe. Die Männer verluden die vollen Säcke und die Kinder verbrannten das übrige Krautwerk der Pflanzen und legten einige der Knollen in die heiße Asche eines schnell entfachten Lagerfeuers. Um die Mittagszeit kamen dann die Omas oder die größeren Kinder mit der sogenannten Kötze (einem geflochtenen Korb für den Rücken, ähnlich einem großen Rucksack) oder dem Handwagen auf das Feld und brachten für die, die schwere Arbeit auf dem Acker leisteten Quetschenkuchen und Kaffee. Dann brach die Vesperzeit an, die Mittagspause, bei der zusammen und vor Ort gespeißt wurde.
Kartoffelernte bei Knipps in der Nachkriegszeit. Zuerst die Bearbeitung mit dem Pferdeflug und rechts die Ernte per Hand.
@Gemeinde Niestetal
Wie arbeitsintensiv die Erntezeit war, zeigte sich auch bei der Heuernte, die jedes Jahr Mitte bis Ende Juli und Anfang August anstand. Schon in der Frühe gegen 4.00 Uhr zogen drei bis fünf Männer mit ihren Sensen auf die zu mähende Wiese. Denn dann war das Gras noch feucht und ließ sich deshalb gut mit der Sense mähen, natürlich nur, wenn die Sensen zuvor intensiv gedengelt wurde (Prozess des Härtens mit einem speziellen Hammer und Schärfen mit einem Wetzstein). War dann der Grasschnitt erfolgt, so sah die Wiese danach gestreift aus, denn der Grasschnitt wurde beim Sensen zu „Schwaden“ angehäuft, Reihe für Reihe. Einige Stunden später nach dem Grasschnitt kamen dann die Frauen auf die Wiese und wendeten mit einem Rechen mehrmals die langen Haufen (Schwaden / Heu- oder auch Sehmaden) zum Trocknen – drei bis viermal am Tag. Diese Prozedur wiederholte sich, je nach Wetterlage, an drei bis acht Tagen. Wurde das Gras dann schließlich zu trockenem Heu, kamen die Wagen zur Abfuhr. Schließlich wurden diese mit vereinten Kräften beladen. So eine Heufuhre wurde, wenn sie sehr hoch beladen war, mit einem Heubalken stabilisiert, damit das Heu unterwegs nicht verloren ging. Für die Kinder war es ein Riesenspaß, wenn sie hoch oben auf dem Heuwagen sitzen durften. Aber mithelfen mussten sie auch sehr oft, gleich nach der Schule. Vor allem dann, wenn sich am Horizont schlechtes Wetter ankündigte. Dann musste alles rasch gehen, damit das Heu trocken in die Scheune eingefahren werden konnte. Die Sense wurde später durch einen von einem Pferd gezogenen Mähbalken abgelöst. Dann kam der Traktor, an den ein Mähbalken montiert wurde und heute wird das Gras mit einer Maschine gemäht, zugleich zu „Schwaden“ gehäufelt und auch gewendet.
Links die Heuernte mit der Sense, bei der die ganze Familie mit anpacken musste. Rechts das Aufladen der Schwaden mit einem Rechen und einem Pferdefuhrwerk, um 1940. @Gemeinde Niestetal
Die Getreidegarben (kleine Bündel) wurden mit einem Traktor eingefahren. Auch die Kinder und Frauen mussten mithelfen. @Gemeinde Niestetal
Durch die ständige Teilung der Felder, besonders unter Erben, zerfiel die gesamte Feldmark Heiligenrodes schließlich in viele kleine Parzellen. Das sorgte bei den Feldarbeiten für einige Hindernisse und Auseinandersetzungen. Viele sehr schmale „Handtuchflächen“ (wenige Meter breite aber dafür lange Grundstücke) waren wegen fehlender Feldweganbindung nur über die Nachbarfelder erreichbar und der Ärger der Grundstückseigentümer wurde immer größer. Daher kam es in vielen Gemeinden zu Flurbereinigungen, bei denen die Ackerflächen neu zugeschnitten wurden. Erst 1909 begann man damit in Heiligenrode unter der Aufsicht einer heimischen Spezialkommission. Bis Ende 1916 waren die umfangreichen Vermessungsarbeiten abgeschlossen. Schließlich gründeten die rund 50 Landwirte im Ort 1919 den ersten Bauernverein, der sich bis heute gehalten hatte.
Neben dem Bestellen der Felder und Versorgen der Tiere boten die meisten Landwirte sich mit ihren Pferdefuhrwerken auch für Transporte aller Art an. So wurden Nutz- und Brennholz aus den umliegenden Wäldern und Kohle aus Kaufungen geholt oder später auch Baumaterial für den Straßenbau transportiert. 1924 nahmen die Landwirte für eine Fuhre Holz vom Viehberg (Rüsteberg) 3 Mark (1,50 Euro), vom Geroldsberg 5 Mark und von Escherode 10 Mark. Doch die Anzahl der Landwirte verringerte sich in den folgenden Jahrzehnten drastisch.
Um 1740 zählte man in Heiligenrode 443 Einwohner, die in 94 Häusern wohnten. Davon betrieben 34 Familien Landwirtschaft. Eine Viehzählung ergab, dass 99 Pferde, 170 Kühe, 505 Schafe, 298 Schweine und 174 Ziegen gehalten wurden. Ausschließlich für die Landwirtschaft arbeiteten 3 Schmiede und 2 Wagner. 4 Hirten hüteten vor allem die Schweine, Schafe und Ziegen.
Um 1900 hatte sich die Zahl der Einwohner auf 1393 erhöht. Gut 50 Landwirte galten nach heutiger Sicht als Vollerwerbslandwirte. Die genaue Anzahl der Nebenerwerbslandwirte, die tagsüber in den Kasseler Fabriken arbeiteten und abends Landwirtschaft betrieben, ist nicht bekannt. Geht man davon aus, dass jede „Feierabendbauernfamilie“ 1–2 Schweine fütterten und auch genauso viele Ziegen hielt („Die Ziege ist die Kuh des kleinen Bauern“, hieß es damals), mussten es über 100 Familien gewesen sein. Denn die Anzahl der Tiere hatte sich über die Jahrhunderte verändert. Man zählte 44 Pferde, 200 Kühe, 395 Schafe, 711 Schweine und 259 Ziegen.
1935 betrieben im alten Ortskern von Heiligenrode noch 41 Familien Landwirtschaft im Vollerwerb. Dazu kommen noch die vielen Familien, die einen großen Teil ihres Lebensunterhalts durch eine kleine Landwirtschaft bestritten. Am Tage arbeiteten die Männer als Fabrikarbeiter bei den Firmen Henschel, Schmidt´sche Heißdampf, Salzmann, Rocholl (Stabfabrik) oder auch der Hafer-Kakao-Fabrik in Bettenhausen und abends betrieb man noch Landwirtschaft. In dieser Zeit wurde täglich länger und auch noch samstags gearbeitet. Die Frauen mussten bei der Feldarbeit der großen Landwirte helfen, was besonders in der Erntezeit der Fall war. Dafür erhielten sie 1 Mark pro Tag (dabei wurde ein Mann mit 2 Mark pro Tag entlohnt). Diesen Lohn verrechneten die Landwirte beim Bestellen der Felder der Kleinbauern. Für Ackern und Säen eines Ackers wurden 10 Mark berechnet. Eine Fuhre Mist auf ein Feld fahren kostete 1 bis 3 Mark je nach Entfernung.
Um 1970 gab es im Ort nur noch 11 Vollerwerbslandwirte. Die meisten hatten die Landwirtschaft aus Altersgründen ganz aufgegeben oder betrieben sie im Nebenerwerb. Auch die Anzahl der Kleinbauern war drastisch zurückgegangen. Heute (in 2023) gibt es nur noch zwei Vollerwerbs-Landwirte in Heiligenrode. Das sind die Familien Steffen in der Dorfstraße und Schaumburg in Windhausen.
Ortsbauernverband Heiligenrode
Die Gründung des Vereins erfolgte 1919. Von allen Versammlungen, die regelmäßig stattfanden, wurde Protokoll geführt. So entstanden 2 Protokollbücher, die noch heute vorhanden sind. Die Protokolle von 1924 bis 1939, die in Sütterlin Handschrift verfasst wurden, übersetzte Heinz Noll im Jahr 2013. In dem zweiten Protokollbuch sind die Niederschriften von 1939 bis 1981 enthalten. Die Protokolle wurden noch bis 1959 in Sütterlin Handschrift verfasst. Das letzte Protokoll stammt von der Versammlung am 01.08.1981. Fester Bestandteil einer jeden Versammlung war ein Bericht aus der Gemeindevertretung. Dort waren die Landwirte mit mindestens einem Mandat vertreten. Auch das Feiern kam nicht kurz. Spinnstuben-Abende sowie Winter- und Sommervergnügen und die Teilnahme an Ortsfesten wurden durchgeführt.
Vieles änderte sich ab 1933. Die Zeit des nationalsozialistischen Deutschen Reichs (1933 – 1945) hatte auch Auswirkungen auf die Bauernschaft in Heiligenrode. Per Gesetz vom 13. September 1933 wurden alle landwirtschaftlichen Betriebe Deutschlands obligatorisch zu einer der größten Organisationen in Deutschland zusammengefasst. Es entstand der sogenannte Reichsnährstand (RNS), an dessen Spitze der Reichsbauernführer stand. Dem Reichsnährstand unterstanden 20 Landesbauernschaften. Diesen unterlagen 521 Kreisbauernschaften und diesen wiederum 50.153 Ortsbauernschaften. Zu einer dieser Ortsbauernschaften zählte ab Januar 1934 auch die Ortsbauernschaft Heiligenrode mit einem Ortsbauernführer an der Spitze. Der Verein Ortsbauernverband Heiligenrode wurde faktisch aufgelöst.
Am 2. Juli 1947 wurde der Verein erneut gegründet. Der Ortsbauernverein ist wieder eine Untergliederung des Kreisbauernverbandes, der eine Geschäftsstelle in Kassel unterhält.
Zum 60-jährigen Bestehen des Vereins in 1979
schrieb der damalige Schriftführer Siegfried Brostmeyer: Die Einführung der
Altershilfe für Landwirte im Jahre 1957, der gesetzlichen Krankenversicherung
im Jahre 1972 bedeutet eine soziale Sicherheit für den Berufsstand. Die Arbeit
des Ortsbauernver- bandes ist vielseitig. In regelmäßigen Versammlungen werden
Fragen über Umstellung und Anpassung der Betriebe an die Erfordernisse der Gegenwart
erörtert. [...] Im
Jahre 1958 wurde der Zuckerrübenanbau aufgenommen und für die Anschaffung eines
Vollernte Gerätes eine Maschinengemeinschaft gegründet, der 11 Heiligenröder
und 2 Bettenhäuser Landwirte beitraten. Heute wird noch eine gemeinschaftliche
Viehwaage, ein Erdbohrer sowie ein Strohhäcksler unterhalten.
Landwirte aus Heiligenrode stammen u.a. aus den Familien: Oppermann, Brückmann, Schmidt, Saalfeld, Heckmann, Johanning, Austermühl, Günther, Ullrich, Mergard, Heere, Dümer, Höhmann, Fieberling, Schmelz, Wacker, Dethoff, Eger, Paul, Umbach, Silber, Noll, Pfannkuch, Döring, Witz, Haase, Semmler und Hohmann.
Die Betriebe konzentrierten sich hauptsächlich entlang der Dorfstraße und der Witzenhäuser Str, aber auch in der Breiten Str. und Kasseler Str. sowie Hinter der Kirche, Walter-Rathenau-Straße, Heinrich-Heine-Straße und im Opferhof waren Höfe angesiedelt.
(Rechts) Der Hof der Familie Oppermann wurde in 1950 abgerissen. Der Stall mit Hof stand in der Wicherstraße. Viele alte Fachwerkhäuser verschwanden in dieser Zeit aus dem Ort. Meist war die marode Bausubstanz oder die Kriegsschäden ein Grund für den Abriss. (Links) Ein Bauernhaus aus 1750 in der Witzenhäuser Straße, aufgenommen etwa 1950.
@Gemeinde Niestetal
N' Anekdötchen
An Sonn- und Feiertagen war Feldarbeit verpönt. Zur Einhaltung der Regeln brauchte man jedoch keine Polizei, denn der Pfarrer achtete ganz penibel auf das Einhalten der Sitten und tadelte jene, die sich nicht an die Etikette / Norm hielten.
Das Verheiraten der Bauerntöchter und Söhne war immer ein wichtiges Thema im Dorf. Bei den meisten Eheschließungen waren auch wirtschaftliche Interessen gefragt. Denn eine Frau musste genügend „Mitgift“ mit in die Ehe bringen (möglichst gutes Ackerland, Tiere oder andere wertvolle Besitztümer). Die Männer hingegen mussten „was an den Füßen haben“. Wer genügend Dreck an den Schuhen hatte, kam von einem fruchtbaren, lehmigen Ackerland und hatte gute Erfolgsaussichten. Eine gute Partie machten junge Frauen, die „nach unten“ heirateten. Denn in tieferen Lagen waren die Ackerflächen ertragreicher. Je höher die Äcker lagen, umso steiniger war der Boden. Steinige Böden lassen sich schwerer bearbeiten und die Ernten fielen immer magerer aus. Daher galt eine Heirat nach z.B. Escherode als „schlechter Fang“, da die Äcker noch steiniger waren als jene in Heiligenrode.
Außerdem war Justus Günter 1936 der erste Landwirt in Heiligenrode, der einen Traktor sein Eigen nannte. Der Deering Trecker mit Stahlrädern hatte einen 34,5 PS Petroleum-Motor.
Biegen Sie rechts in die Karl-Marx-Straße ein und erkunden Sie die nächste Tafel am Eingang zum Park, neben dem Brunnen und der Begegnungsstätte Niestetal / AWO-Seniorenzentrum.